dgbrt.ch
Letter from Zurich: Singapur – ein Rückblick
Sonntag, 2007-12-30

Der letzte »Letter from Singapore« ist ein »Letter from Zurich«, bin ich doch schon vor mehr als drei Wochen in meine Zürcher Wohnung zurückgekehrt. Und erstaunlich, wie ansatzlos man sich wieder zuhause fühlt … und einem volle sechs Monate Singapur wie ein ferner Traum vorkommen. Andererseits ist vielleicht aus der Distanz ein anderer Blick auf diesen spannenden Ort möglich. Ein solcher – kritischer – Blick zurück beschliesst die Serie zu meinem Auslandsabenteuer.

Widersprüche und unschöne Seiten. Der Stadtstaat Singapur ist ein in so mancher Hinsicht widersprüchlicher Ort, der sich einer griffigen Charakterisierung in wenigen Sätzen entzieht. Hochmodern auf der einen Seite, scheinen andererseits manche der garstigen Gesetze aus eher vormodernen Zeiten zu stammen, und das weltweit bekannte Kaugummiverbot ist da nur eine harmlose Kuriosität. Architektonisch und stadtplanerisch kühnste Vorhaben (z.B. Marina Bay) hier, Todes- und Prügelstrafe (Rohrstock) dort – kein Widerspruch in Singapur. Bei der letzten Strafrechtsrevision wurden auf breiter Front die Strafmasse erhöht und Paragraphen weiter verschärft, während auf der anderen Seite die Abschaffung eines Paragraphen (Section 377A), der Geschlechtsverkehr von Homosexuellen zum strafbaren Verbrechen macht, klar durchfiel. Apropos: Nur zwei Jahre ist es her, dass ein Auftritt zweier schwuler Popsänger durch die Media Development Authority (MDA) verboten wurde – Begründung damals: »alternative lifestyles are against the public interest«. Immerhin dürfen die zwei heute auftreten, aber: mit einem R18-Rating (also nur vor volljährigem Publikum) und bei einer Anti-AIDS-Veranstaltung, die sich an Hochrisikogruppen wendet. Und man soll nicht denken, diese offizielle Linie der Politik würde von der Bevölkerung nicht mitgetragen, das Gegenteil ist der Fall. Ähnlich beim allgemeinen Demonstrationsverbot. Jegliche öffentliche Versammlung unter freiem Himmel ab fünf Teilnehmern aufwärts bedarf einer polizeilichen Genehmigung, um die jeder ersuchen kann, die aber in einhundert Prozent der Fälle verweigert wird. Die Begründung: die Insel sei zu klein, Demonstrationen könnten zu leicht ausser Kontrolle geraten. Anlässlich der Myanmar-Krise wurde dieses Demonstrationsverbot zum Diskussionsgegenstand auf den Leserbriefseiten, wo es nicht wenige Befürworter dieser harten Linie gab (z.B. »protests can easily get out of hand, so why allow them?«, Leserbrief in TODAY, 27.09.). Da reibt man sich als Europäer ungläubig die Augen. Kaum erstaunlich, dass Singapur dann auch als grösster Fürsprecher der Todesstrafe auftritt, so etwa vor den UN (»UN resolution calls for capital punishment to be suspended – Singapore leads the charge against non-binding resolution«, Straits Times, 17.11.). In dieser Rolle hätte man eher die USA gesehen. Aber im Verhältnis zur Einwohnerzahl werden in Singapur auch mit Abstand am meisten Todesurteile vollstreckt, insofern passt das zusammen.

Ordnung, Wohlstand. Demokratie? Alles das hat den wirtschaftlichen Erfolg Singapurs nicht bremsen können, ebenso wenig wie die nur entfernt »demokratischen« Verhältnisse in der Politik (seit Jahrzehnten hat genau eine Partei das Land im Griff, und die existierende, aber marginale Opposition wird von der regierenden Partei mit allen Mitteln drangsaliert und vom Grossteil der Bevölkerung als überflüssig empfunden). Freilich ist Singapur im Vergleich mit seinen Nachbarn ein Musterknabe … auch das darf man nicht vergessen. Die jährlich sieben, acht Prozent Wirtschaftswachstum, der angehäufte Wohlstand (der es zum Beispiel möglich gemacht hat, Milliarden in die Subprime-gebeutelten Banken UBS und Merrill Lynch zu stecken, der Staatsfonds GIC bei UBS, Temasek bei Merrill Lynch) – all das kommt nicht von der exzellenten geostrategischen Lage allein. Dann müsste es den Nachbarn Malaysia und Indonesien ähnlich gut gehen. Vielmehr hat man früh verstanden, dass Singapur eine erstklassige Infrastruktur und Bildung (und Englisch als gemeinsame Sprache) braucht und sich Konflikte zwischen den verschiedenen ethnischen Bevölkerungsgruppen nicht leisten kann. In allen Punkten war man erfolgreich: die Effizienz des öffentlichen Nahverkehrs habe ich schon an anderer Stelle gelobt, Strassen, Strom- und Wasserversorgung sind vorbildlich, Bildung und Englischkenntnisse der Bevölkerung hervorragend. Dazu gibt es eine effiziente Verwaltung, eine rekordverdächtig tiefe Verbrechensrate und kaum Korruption. Das zieht Investoren an, und die scheren sich dann in der Regel auch wenig um, etwa, die Rechte von Homosexuellen im Land. Was den Umgang mit den verschiedenen Ethnien und Religionen in Singapur angeht, ist ein Vergleich mit Malaysia aufschlussreich. Dort ist der Islam offizielle Staatsreligion und Religionsfreiheit nur in der Theorie gegeben. Ebenso gibt es eine gesetzlich vorgeschriebene bevorzugte Behandlung von Malaien (gegenüber Chinesen und Indern) im Wirtschaftsleben. Beides sorgt regelmässig für Unmut und Schwierigkeiten aller Art und hat Malaysia hinter Singapur entwicklungsmässig zurückfallen lassen. In Singapur ganz anders, dort werden gegenseitige Toleranz und das friedliche Zusammenleben der Völker und Kulturen gross geschrieben. Man verzichtet dafür auf ein paar Freiheiten (nur nicht zu viel wagen, nur ja niemanden provozieren), dafür kommen die Menschen erstaunlich gut miteinander aus. Eine aktuelle Studie (Ergebnisse nachzulesen in der Straits Times vom 3.11.) hat das einmal mehr bestätigt – zwar bleiben Chinesen, Malaien und Inder in der Hauptsache unter sich (vor allem im Hinblick auf Eheschliessungen, gemischte Partnerschaften sind selten), aber das Verhältnis zwischen den Gruppen ist gut. Praktisch niemand hat etwa weniger Vertrauen in einen Polizisten einer anderen Ethnie, niemand würde einen Arbeitgeber ablehnen, weil er z.B. Chinese ist, oder einen Arzt, weil er indische Vorfahren hat. Singapur einen »melting pot« zu nennen, wäre also vielleicht nicht ganz treffend. Eine funktionierende multikulturelle Gesellschaft ist es durchaus.

Mixed feelings. Alles in allem bleiben also gemischte Eindrücke. Singapur ist ein Ort, an dem sich gut leben lässt, zumindest mit einem gut bezahlten Job. Viele der aufgezeigten problematischen Aspekte bleiben im Alltag weitgehend unbemerkt – wer sich nicht mit Kaugummi erwischen lässt, seinen Abfall brav im Mülleimer entsorgt, sich nicht politisch engagiert und heterosexuell ist, der erlebt ein (scheinbar) tolerantes, »westliches« südostasiatisches Land, in dem man es ohne weiteres länger aushalten kann. Erst wenn man genauer hinsieht, die politische Diskussion verfolgt und Zeitungen liest, bekommt man gelegentlich Bauchweh. Singapur hat erstaunlich viel erreicht, aber auch noch ein Stück Weg vor sich.

Was ich vermisse. Nicht nachdenken zu müssen über die Wahl der geeigneten Kleidung, am Morgen – das Wetter ist sowieso rund um's Jahr gleich. Die Annehmlichkeiten des Expat-Lebens wie zum Beispiel den Pool im Innenhof und die Maid, die täglich die Küche putzt. Die gigantische Auswahl günstiger Speisen in hunderten von Food Courts und Hawker Centres. Die verdammt praktische EZ-Link-Karte als Ersatz für das übliche Ticketgefummel im ÖV. Die grandiose Skyline am Raffles Place. Die unzähligen schönen Frauen im Central Business District. Die diversen Shopping-Paradiese entlang der Orchard Road.

Was ich nicht vermisse. Kondenswasserpfützen auf dem Tisch, die sich dank Luftfeuchtigkeit zuverlässig an Gläsern, Flaschen und Saftkartons bilden. Wein ab S$20 die Flasche, und das noch für keinen sonderlich guten. Das miese Brot. Indonesische und koreanische Küche. Vollkontakt-Bus- und Bahnfahren mit dem gar zu oft überlasteten ÖV. Blind sein mit beschlagener Brille nach dem Aussteigen aus dem tiefgekühlten Bus. Taxifahren mit lachenden Chinesen, die sich nur selten an Fahrspuren halten und auch mal drei nutzlose Runden um das Ziel herum fahren. Coiffeur-Besuche. Japan Hour.

Schluss. Das halbe Jahr in Singapur war eine manchmal aufregende, von Anfang bis Ende höchst interessante Erfahrung – und zu diesem Angebot »ja« gesagt zu haben vermutlich eine der besten Entscheidungen des Jahres. Würde ich noch einmal gehen? Denke schon; für eine begrenzte Zeit – aber diese Gelegenheit wird sich vermutlich nicht bieten. Bleibt mir nur, in den Fotos zu blättern, mich von den als Andenken gekauften »imperial lions« bewachen zu lassen und ein Stückchen Singapur im Herzen mit mir herumzutragen.